LESEPROBE

Gerlinde E. Lahr, Stark in die besten Jahre
Kreuz-Verlag, Stuttgart, Zürich 2002

Das Buch ist beim Verlag inzwischen vergriffen, einige Restexemplare können noch bei der Autorin direkt erworben werden (14,90). Bitte setzen Sie sich bei Bedarf einfach über Email oder die Kontaktseite mit mir in Verbindung.

1 Innehalten auf dem Lebensweg
Den inneren Reichtum entdecken
Im lebendigen Wechsel zwischen Innen und Außen
Übung: Unterscheiden zwischen inneren und äußeren Einflüssen
Die Entwicklung hört nicht auf
Die Begegnung mit dem Alter
Eigene Entscheidungen werden immer wichtiger
Übung: Reflexion unserer Ausbruchsversuche
Das persönliche Lebensmuster
Die Zwischenbilanz in der eigenen Biografie
Übung: Biografische Zwischenbilanz
Der schwierige Umgang mit der Ungewissheit
Übung: Eigene Reaktionsmuster auf Ungewissheit erkennen
Würdigen und Verabschieden des Alten Loslassen – jetzt schon?
Das hochgelobte Durchhalten
Zwischencheck: Inspektion begonnener Lebensgestaltungen
Lernen, das Vergangene wertzuschätzen
Übung: »Negative« Lebensentscheidungen umbewerten und annehmen
Die Zeit zwischen Altem und Neuem
Der Nutzen des temporären Rückzuges
Übungen: Mit Selbstmitleid umgehen

2 Der Status quo als Startbasis
Orientierung mit der Identitätspyramide
Ebene der Identität
Ebene der Werte
Ebene der Glaubenssätze, Überzeugungen
Ebene der Fähigkeiten
Ebene des Verhaltens
Ebene des Umfeldes, Kontextes
Bestandsaufnahme

3 Wohin soll die Reise gehen?
Der verborgene Lebensentwurf
Zwischencheck
Die Verlockungen des Erlebniskonsums
Zwischencheck
Die Frage der Lebensaufgabe
Wegweiser zu einem authentischen Leben
Übung: Weg von-Wegweiser in Ziele verwandeln
Übung: Hin zu-Wegweiser sammeln und wertschätzen

Zwischencheck: Spannungen aushalten
Träume und Sehnsüchte
Phantasiereise: Mein Bild im Zauberspiegel
Übung: Collage
Übung: Timeline mit der Identitätspyramide

4 Drei Lebenswege von Frauen
Irene – In der Welt zu Hause
Irene über sich selbst
Britta – Ich staune darüber, was sich in meinem Leben alles verändert hat
Britta über sich selbst
Carola – Begegnungen sind für mich Reichtum
Carola über sich selbst

5 Sieben Fallen, die Weiterentwicklung und Zufriedenheit blockieren können
Die Ambivalenz-Falle
Kriterien: Trennung – ja oder nein?
Die Ballast-Falle
Übungen: Sortieren und Loslassen
Die Altruismus-Falle
Checkliste zur Altruismus-Falle
Die Opfer-Falle
Tipps zum Verlassen der Opferhaltung
Die Perfektionismus-Falle
Übung: Ein liebevoller Brief für Sie selbst
Die Goldener-Käfig-Falle
Fragen zur Klärung
Die Nachlässigkeits-Falle
Drei Schritte zur Überwindung der Trägheit

6 Sieben Schlüssel auf dem Weg zu sich selbst
Die Vergangenheit als Basis anerkennen
Nicht abgeschlossene Entwicklungen
Worauf Sie bei Unterstützung von außen achten sollten Annehmen, was ist
Warum nicht mit Begeisterung?
Durchhalten, auch wenn es gelegentlich schwer fällt
Aus Krisen gestärkt hervorgehen
Angst und Wachstum
Handeln mit Achtsamkeit und Liebe
Tipps aus dem Überlebenskoffer für den Alltag
Ein tragfähiges soziales Umfeld pflegen
Zwischenmenschliche Fähigkeiten als Schlüssel zu erfolgreichen Netzwerken
Gut für sich selbst sorgen
Lustvolle Anregungen
Das Besondere in sich anerkennen
Kunst und Lebenskunst
Sich als Teil des größeren Ganzen erleben
Die eigenen Pläne und der Lauf der Dinge

7 Der Weg wird leichter – und plötzlich können Träume Realität werden
Zufälle und Geschenke
Wie uns die Prinzipien der Selbstorganisation unterstützen können
Unsere Entscheidungen bahnen den Weg
Zwischen Freiheit und Gebundensein

 

Vorwort:
Dieses Buch ist für Frauen geschrieben – und ganz sicher auch für Männer hilfreich -, die schon einen Teil ihres Lebensweges gegangen sind und beschlossen haben, den nächsten Teil wacher, mit mehr Bewusstheit, Klarheit und dem Wunsch nach mehr Leichtigkeit fortzusetzen. Menschen, die eine tiefe Sehnsucht empfinden, sich selbst nahe zu sein, die sich bei sich selbst zu Hause fühlen möchten. Wenn Sie schon einige Wege und Umwege hinter sich haben, stellen Sie vielleicht fest, dass Sie in Bezug auf das Leben zwar viele Antworten, aber womöglich noch viel mehr Fragen gefunden haben – und das ist so ziemlich das Beste, was jedem von uns passieren kann, denn es lässt die innere Haltung zu, neugierig und offen zu sein. Für mich selbst ist die Phase der Lebensmitte eine der spannendsten, interessantesten und befriedigendsten überhaupt. Und es würde mich freuen, wenn ich meine positiven Erfahrungen und einige der nützlichen Methoden, die ich auf meinem Weg gefunden habe, mit Ihnen teilen könnte – als Anregung, Ihren eigenen Weg zu finden, weiterzugehen und trotz mancher Rückschläge und Widrigkeiten, die das Leben so bereit hält, dranzubleiben. Fertige Antworten kann und will ich in diesem Buch nicht bieten, solche Instantlösungen könnten der Komplexität Ihres Lebens ohnehin nicht gerecht werden. Was ich getan habe, ist, Fragen und Antworten meines eigenen Weges und der Wege von Klienten, die ich ein Stück begleiten durfte, zu beschreiben. Das Buch ist so aufgebaut, dass Sie es einfach nur lesen und sich inspirieren lassen können, Sie können es aber auch wie ein Arbeitsbuch benutzen und Ihr eigenes, maßgeschneidertes Seminar daraus zusammenstellen. Aus diesem Grund habe ich viele Übungen, Zwischenchecks, Phantasiereisen und andere Techniken eingeflochten, die Sie benutzen können, um Ihre eigenen Entwicklungskräfte anzuregen. Am besten betrachten Sie dieses Buch als eine ganz spezielle Art von Marktplatz, auf dem ich Ihnen einiges anbiete, was sich aus meiner Erfahrung bewährt und als nützlich erwiesen hat. Das heißt keineswegs, dass Ihnen jede Übung und jeder Gedanke zusagen muss. Gerade in der Abgrenzung nehmen wir ja unsere Individualität oft besonders deutlich wahr. Nutzen Sie dieses Buch als offenes Angebot, aus dem Sie sich genau das heraussuchen, was Ihnen jetzt gerade weiterhilft, was Sie neugierig macht und wovon Sie spüren, dass es bestimmte Seiten in Ihnen zum Schwingen bringt, die sich stärken und weiterentwickeln möchten. Wenn man eine Reise macht – und ein Entwicklungsprozess ist ja eine Reise -, dann ist es zweckmäßig, eine Landkarte zu haben, auf der der momentane Standpunkt zu finden ist und möglichst auch das Ziel, wo es hingehen soll. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen Gedanken anbieten kann, die Ihnen solche Orientierungshilfen und Wegweiser, aber auch Hinweise auf seelische Tankstellen und freundliche kleine Rastplätze zum Verschnaufen sein können. Besonders effektiv können Sie dieses Buch nutzen, wenn Sie sich ein zweites leeres Buch, eine Kladde oder ein Ringbuch dazunehmen, sich vielleicht noch einen schönen Stift besorgen, und dieses Arbeits- oder Tagebuch, das jetzt noch leer ist, mit Ihren eigenen Gedanken und den Ergebnissen der Übungen füllen. Damit haben Sie auch noch später die Gelegenheit, Ihren eigenen Entwicklungsprozess mitzuverfolgen, immer wieder einmal nachzuschlagen und das, was Sie erreicht haben, zu würdigen. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: Wenn es keine Probleme gäbe, müssten sie erfunden werden. Wie sonst sollten wir unsere eigenen Kräfte erfahren? Das Beste, was mit dem Buch, das Sie jetzt in Händen halten, passieren kann, ist, dass Sie plötzlich Resonanzen spüren, die Sie mit Ihrer eigenen Kraft in Verbindung bringen, und dass es Sie ermutigt, Ihren eigenen Weg stets weiterzugehen. Dann können auch ganz unvermittelt wieder Träume auftauchen. Wie das, fragen Sie sich? Das Geheimnis ist: Die Träume sind sowieso in jedem von uns immer da. Diese Träume haben viel Kraft und sind eng mit unseren Potenzialen verknüpft. Oft haben wir nur keinen Zugang zu ihnen, weil sich im Laufe der Jahre oder Jahrzehnte davor ein Berg von Hindernissen in Form von selbstabwertenden Grundüberzeugungen, negativen Haltungen gegenüber sich selbst und anderen Menschen, unklaren Vorannahmen, schlechten Erfahrungen, die verallgemeinert wurden, Sorgen und Zweifeln aufgetürmt hat. All dies trägt dazu bei, dass wir uns von uns selbst entfernen, nicht mehr wirklich in Kontakt mit uns sind. Mit der Zeit entsteht daraus leicht das Gefühl, Opfer eines ungewissen Schicksals zu sein und die Dinge nicht beeinflussen zu können.

Mit diesem Buch möchte ich Sie gerne darin unterstützen, sich wieder als Regisseurin Ihres eigenen Lebens zu fühlen und wenigstens das zu beeinflussen, was Sie beeinflussen können. Wenn dann Ihre Träume beginnen aufzutauchen, werden Sie spüren, dass sie auch Wirklichkeit werden können … In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie auf Ihrem Weg mit Neugier, Achtung und Freude den unterschiedlichsten Seiten in sich selbst begegnen.

Auch ein fertiges Buch ist zunächst nicht mehr als eine geistige Vorstellung und bedarf der einzelnen Schritte, um realisiert zu werden. Diese Schritte sind immer verwoben mit anderen Menschen. Bei einigen, die mich bei diesem Projekt besonders unterstützt haben, möchte ich mich bedanken: bei Michael, der mir mit viel konkreter und praktischer Entlastung, insbesondere in unserer Firma, geholfen hat, dass ich überhaupt genügend Zeit finden konnte, das Buch zu schreiben; bei Dieter für die vielen anregenden und inspirierenden Gespräche, von denen wichtige Gedanken in das Buch eingeflossen sind; bei den Frauen, die mir für Interviews und Gespräche zur Verfügung gestanden haben und dem Buch die interessanten Beispiele geliefert haben; bei Neele, einfach für ihr Da-Sein (und manchmal während ich geschrieben habe, mich in Ruhe gewähren zu lassen); und nicht zuletzt bei Beate Herbinger, der Lektorin des Kreuz Verlages, die mich auf so angenehme, kluge und kompetente Weise begleitet hat.

Gerlinde E. Lahr, Frühling 2002

 

Leseprobe

3. Wohin soll die Reise gehen?
Eigentlich ließe sich die Antwort auf die Kapitelüberschrift in einem einzigen Satz formulieren: Immer mehr zu mir selbst! Okay, wunderbar! werden Sie vielleicht ausrufen und direkt danach mit Recht fragen: Aber wie ist es denn zu schaffen, zu mir zu kommen, bei mir selbst anzukommen, zu der zu werden, die ich ja eigentlich tief im Inneren schon immer bin? Genau das ist der Punkt, um den es hier gehen soll. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als um unseren Lebensentwurf, darum, wie Sie herausfinden können, worin Ihre ganz persönliche Einzigartigkeit besteht und wie Sie die Einladung des Lebens zu sich selbst annehmen können.

Der verborgene Lebensentwurf
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie neidisch ich einmal auf Jehudi Menuhin war, als ich vor Jahren in einer Radiosendung gehört habe, dass er schon mit vier Jahren unbedingt auf einer richtigen Geige spielen wollte. Seine Eltern hatten – verständlicherweise – offenbar nicht die Absicht, einem so kleinen Kind solch ein teures Musikinstrument zu kaufen. Nach langem Drängen haben sie jedoch nachgegeben und ihrem Sohn zum Spielen erst einmal eine kleine Blechgeige gekauft. Als der kleine Jehudi diese Geige schließlich in Händen hielt, schleuderte er sie voller Wut in eine Ecke, zertrümmerte sie und weinte. Er hatte eine wirkliche Geige aus Holz mit einem schönen Klang gewollt. Mich hat beim Hören dieser Geschichte zwar die Wut und Trauer des kleinen Jungen berührt, aber in erster Linie war ich begeistert und regelrecht neidisch bei der Vorstellung, dass man so früh schon so genau wissen kann, was man will, was das wirklich Eigene ist. Auch wenn dies sicher ein extremes Beispiel ist, weil hier eine ganz außergewöhnliche Begabung vorhanden war, so trägt doch jeder von uns ein Potenzial in sich, das leben will. Sehr oft wird gerade kleinen Mädchen das energische Ich will! ausgetrieben, weil sich das für Mädchen eben einfach nicht schickt und außerdem, weil es Eltern lästig ist oder peinlich oder beides zusammen. Vielleicht waren meine Begeisterung und mein Neid auf den kleinen Jungen, der einmal ein so großer Musiker und Mensch werden sollte, auch dadurch begründet, dass ich mir die Arbeit und den eigenen langen Weg, der mir zu manchen Zeiten wie eine Aneinanderreihung von Umwegen erschienen ist, gerne abgekürzt hätte, um herauszufinden, was wirklich mein Ding, meine Berufung ist. Die wenigsten können ihren tiefsten Traum vom Leben formulieren, und viele machen erst gar nicht den Versuch, sich diesem Traum schrittweise zu nähern. Die Gefahr, die besteht, wenn wir unseren Traum missachten, ist, dass wir irgendwann feststellen, dass wir einen ganz anderen, einen fremden Weg gegangen sind, dass wir uns scheinbaren Sachzwängen gefügt haben, dass es so halt viel vernünftiger, bequemer, praktischer war – aber dass uns dieser Weg von uns selbst weggeführt hat.

Zwischencheck
Nehmen Sie bitte wieder Ihr Arbeitsbuch und Ihren Stift zur Hand, und notieren Sie, was Ihnen zu den folgenden Fragen einfällt: Wenn Sie in Gedanken zurückgehen in Ihre Kindheit, was wissen Sie noch darüber, was Ihnen damals wichtig war? Was Sie tun wollten, wie Sie leben wollten, welchen Beruf Sie einmal ergreifen wollten? Was davon berührt Sie heute noch? Was ist Ihnen heute noch wichtig? Vergleichen Sie Ihre Aufzeichnungen mit jenen aus Kapitel 1: Welche Themen wiederholen sich, kristallisieren sich heraus? Welche sind vielleicht neu hinzugekommen? Haben wir unsere Potenziale wirklich ausgeschöpft, der Einzigartigkeit in uns eine Chance gegeben oder haben wir unsere Träume verraten? Haben wir uns auf faule Kompromisse eingelassen und sind den bequemeren Weg gegangen? Es gibt vorgezeichnete Wege, die auch viele andere gehen, die man auch nicht rechtfertigen muss, weil sie ja sozial akzeptiert und erwünscht sind.

Die Verlockungen des Erlebniskonsums
Führt der Konsum von Erlebnissen zu einem erfüllten Leben? Und was ist das eigentlich: ein erfülltes Leben? Dem Begriff Lebensqualität begegnen wir an vielen Orten und noch häufiger der Idee von der Erlebnisqualität, meist in Form von Erlebnisrestaurants, Erlebniseinkaufszentren der Erlebnisurlauben. Inzwischen gibt es wunderbare All-Inclusive-Angebote, bei denen andere sich den Kopf darüber zerbrechen, was wir wohl gerne erleben (und natürlich wofür wir Geld ausgeben) würden. Erleben hat Konjunktur, und es gibt jede Menge raffinierter Angebote, die äußerst wenig Einsatz erfordern, um ein mehr oder weniger intensives Erlebnis geboten zu bekommen. Allerdings ist die Empfindungsqualität, die sich z.B. beim Betrachten eines Bergpanoramas einstellt, eine völlig andere, wenn ich einen Marsch zum Gipfel geplant und gegen Erschöpfung und Müdigkeit durchgehalten habe, als wenn ich mich von einem Helikopter in zwanzig Minuten hochfliegen lasse. Trotz des gleichen atemberaubenden Ausblickes fehlt das tiefe Empfinden, mir diesen Ausblick erobert zu haben, auch wenn mir das in diesem Moment vielleicht gar nicht bewusst ist. Erst das Wissen um die eigene Kraft und das Bewusstsein, einen Preis, der über Geld hinausgeht, für dieses Erlebnis gezahlt zu haben, gibt dem Empfinden eine völlig andere Tiefe und einen anderen Stellenwert.

Zwischencheck
Nutzen Sie wieder Ihr Arbeitsbuch für Notizen: Fallen Ihnen spontan Bereiche oder Aspekte Ihres Lebens ein, von denen Sie sagen würden: Damit verleugne ich mich selbst, meine Talente, meine Kraft, meine Wünsche oder Fähigkeiten? Erinnern Sie sich an Situationen aus der letzten Zeit, in denen Sie Lust oder den Impuls gehabt hätten, etwas Bestimmtes zu tun, einfach nur, weil es Ihnen selbst gut getan und neue Erfahrungen ermöglicht hätte, Sie es dann aber unterlassen haben aus Angst davor, was andere sonst über Sie denken würden? Umgekehrt: Gibt es Dinge, von denen Sie tief im Inneren wissen, dass Sie sie nur tun, weil Sie denken, Sie sollten sie tun, weil andere Ihnen dafür Anerkennung zollen, Sie endlich einmal ernst nehmen, Sie bewundern oder beneiden?

Im Prinzip gibt es zwei große Richtungen, denen wir folgen können: einem fremdbestimmten oder einem selbstbestimmten Leben. Der Therapeut Michael Mary nennt dies, dem gesellschaftlichen oder dem individuellen Mythos zu folgen. Im gesellschaftlichen Mythos folgen wir dem, was die anderen sagen, worauf es im Leben ankommt. Und es gibt ein Versprechen: Wenn du … erreicht hast, dann wirst du glücklich sein. Dann bist du am Ziel deines Lebens angekommen. Es gibt vieles, was uns fast zu jeder Tages- und Nachtstunde an Bedürfnis- und Wunschbefriedigungen, auch an Lebensidealen angeboten wird. Davon kann das eine oder andere möglicherweise wirklich zu uns passen. Wir leben ja nicht im luftleeren Raum, und für fast jede Lebensform lassen sich Modelle finden. Um herauszufinden, ob wir gerade unserem eigenen oder einem fremden Weg folgen, ist dabei immer die Rückkopplung zu unseren Wünschen und Empfindungen wichtig: Geht es mir wirklich gut damit, befreit es etwas in mir? Oder wünsche ich mir nur, dass es passt? Denn dann habe ich meine Ruhe und brauche nicht um Entscheidungen zu ringen – und mir wichtige oder sogar unwichtige Menschen werden zufrieden sein. An diesem Punkt können wir nicht aufmerksam und genau genug sein, denn der Grat zwischen Eigentlich muss es mir doch jetzt gut gehen. Das war es doch, was ich wollte! und Ich wollte das so gerne. Aber wenn ich jetzt ehrlich mit mir selber bin, geht es mir nicht wirklich gut damit ist manchmal äußerst schmal. Und es gehört viel Mut dazu, es sich einzugestehen, wenn es nicht das Richtige für uns ist. Auch der Traum vom großen Glück zu zweit, der besonders einer Frau die langwierige Suche nach der eigenen Lebensform zu ersparen scheint, geht im realen Leben über den Schluss von Märchen oder Filmen „… und sie lebten glücklich bis an ihr Ende“ hinaus. Sicher gibt es auch solche Beziehungen, doch diese Paare sind dann durch eine ganze Reihe von Transformationsprozessen gegangen, die auch schwierige und schmerzhafte Phasen beinhaltet haben. In vielen Fällen aber stellt sich heraus, dass der emotionale Höhenflug zu Beginn einer Liebe in einem kurzen Aufprall oder langen Leidensweg endet. Eine 44-jährige Frau, die von sich selbst sagt, dass sie lange Zeit nur das eine Ziel hatte, für Glück und Zufriedenheit in der Familie zu sorgen, beschreibt sich selbst rückblickend so: Ich war immer nur die brave Hausfrau, die alles für ihre Familie gemacht hat. Aber mich als Person gab es gar nicht. Heute sehe ich es so, dass ich mich hinter meiner Rolle versteckt habe. Ich musste nie zu mir stehen, zu keiner meiner Überzeugungen. Ich konnte immer meinen damaligen Mann vorschieben. Ihre inzwischen 21-jährige Tochter beschreibt es aus der Außensicht ganz einfach so: Weißt du, der Vati war immer der tolle Mann für mich und du die Putze! Sein Leben in den Dienst der Familie zu stellen ist nur eine Variante, die uns der gesellschaftliche Mythos als Lebensentwurf anbietet, allerdings für Frauen ein sehr geläufiger, einer, der gut in die gesellschaftlichen und politischen Strukturen passt und deshalb viel soziale Zustimmung bietet – wenn er auch sehr selten wirkliche ehrliche Anerkennung erfährt. Sich für Familie zu entscheiden muss allerdings keineswegs heißen, sich selbst aufzugeben und seinem eigenen Weg überhaupt nicht folgen zu können. Herlinde Kölbl, eine sehr talentierte und bekannte Fotografin, die vier Kinder hat, hat erst mit Ende dreißig begonnen, sich ernsthaft mit Fotografie auseinander zu setzen und es dennoch sowohl zu handwerklicher Meisterschaft als auch zu großer Anerkennung gebracht. Das heißt nicht, dass ein authentisches, kreatives Leben unbedingt an öffentliche Anerkennung gekoppelt sein muss. Keineswegs! Aber es gibt auch keinen Grund, dies von vornherein auszuschließen. Sicher kennen auch Sie Menschen, die ein völlig unspektakuläres Leben führen, die aber einfach als Person und in ihrer Tätigkeit überzeugen. Bei solchen Menschen haben wir das Gefühl: Die sind bei sich, die tun das, was sie tun, mit Überzeugung, Stil und Hingabe.
Jede von uns muss eine Entscheidung, wie sie ihr Leben verbringen will, treffen – oder sie sich von anderen abnehmen lassen. Auch das ist eine Entscheidung, wenn auch meist keine bewusste. In jedem Fall muss sie mit den Konsequenzen, den Folgen leben und am Ende des Lebens entscheiden: Hat mir mein Leben eigentlich gefallen, oder hat es nur anderen gefallen? Das klingt sehr emotionslos und ist es auch. Denn so wird es sein, für jede von uns, ob wir vor dieser Frage Angst haben oder nicht. Das ist es, was Verantwortung für mich und mein Leben übernehmen bedeutet. Das gibt mir allerdings auch die große Chance, aus der Opferrolle herauszutreten und Regisseurin meines eigenen Lebens zu werden. Und wenn Sie sich bisher eher als Statistin denn als Regisseurin gefühlt haben, kann sich dies ab jetzt ändern, wenn Sie es wollen. Sie können sich selbst Ziele setzen, seien sie am Anfang auch noch so klein. Die Größe ist nicht wesentlich, der entscheidende Punkt ist, dass Sie sich etwas vornehmen und sich an Ihre eigenen Vereinbarungen halten.

Die Frage der Lebensaufgabe
Im Laufe der Zeit wird das, was wir erlebt und erfahren haben, die Qualität unseres Lebens bestimmen; ähnlich dem Gewebe, an dem wir unablässig arbeiten und in das wir mal konzentriert, mal eher nachlässig die verschiedensten Materialien, Fäden und Farben einweben. Da sich das Erleben in der Zeit abspielt, wird die Zeit zu unserer kostbarsten Ressource.
Für mich selbst war und ist die Frage Was ist eigentlich meine Lebensaufgabe? seit Jahrzehnten spannend. Auf den verschiedensten Wegen habe ich nach einer Antwort gesucht. Manche Wege haben sich als effektiver und ertragreicher herausgestellt als andere, und ich habe festgestellt, dass es Abkürzungen bei der Suche gibt, oder richtiger: dass man nicht unbedingt jeden Umweg machen und nicht jede Wartezeit in Kauf nehmen muss. Es gibt Erfahrungen anderer Menschen, Methoden und Knowhow, und es ist legitim, dies zu nutzen. Darum ist es auch kein Zufall, dass der größte Teil meiner Beratungstätigkeit darin besteht, andere darin zu unterstützen, ihr Potenzial und ihre Träume erkennen zu können und Möglichkeiten zu finden, sie zu leben.
Da ich mich für vieles interessieren und begeistern kann, ist mein bisheriger beruflicher Weg alles andere als geradlinig. Ob Geradlinigkeit überhaupt erstrebenswert ist, kann nur jeder Einzelne für sich selbst beurteilen. Was ich an meinem gewundenen Weg schätze, ist, dass er mich zu zahlreichen spannenden Stationen geführt hat, die über die Bereiche Modedesign, Psychologie, Stressforschung, Hochschullehre, Sportpsychologie, von der Visuellen Kommunikation in der Werbung über die Marketingberatung zur ganzheitlichen Unternehmensberatung und dem persönlichen Coaching geführt haben. Und ich möchte nichts davon missen.
Natürlich gab es immer mal wieder Zeiten, in denen ich mich gefragt habe: Was ist nun wirklich mein Ding? Wo kann ich das, was in mir angelegt ist, am besten verwirklichen? Und wann, zum Donnerwetter, weiß ich es endlich? Heute weiß ich, dass es auch schon früher Hinweise gegeben hat, ich sie aber oft nur sehr halbherzig wahrgenommen oder gänzlich ignoriert habe, weil genau das passiert ist, was ich in Kapitel 1 beschrieben habe: Jetzt habe ich da schon so viel hineininvestiert, was würde X oder Y sagen, wenn ich jetzt damit aufhöre? Das kann ich ja auch noch später machen, schließlich habe ich noch viel Zeit …
Einer der vielen Vorteile der Lebensmitte besteht darin, dass wir den Wert der Ressource Zeit erkennen und ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr bereit sind, diese Ressource zu verschwenden. Natürlich können wir nicht beliebig über unsere Zeit verfügen, jeder ist auf irgendeine Weise Notwendigkeiten unterworfen, wie Geld zu verdienen oder Kinder großzuziehen oder beides und noch einiges mehr. Und gerade weil die Zeit so schnell verfliegt und weil es so einfach ist, gelebt zu werden, sowohl im Arbeits- wie im Freizeitbereich, gehört es zu den wichtigsten Entscheidungen jedes Einzelnen, worin er die ihm zur Verfügung stehende Zeit investieren will.
Ich finde die Ansicht des Psychotherapeuten James Hillman, der sich besonders mit den Aspekten Berufung und Schicksal auseinander gesetzt hat, sehr fruchtbar. Er greift den universalen, in den meisten Weltkulturen anzutreffenden Mythos auf, dass ein Mensch die Welt mit einer Berufung betritt, dass er, wie Plato es nannte, einen daimon, einen guten Dämon an seiner Seite hat. Dieser Seelengefährte begleitet ihn zeitlebens, um ihn immer wieder zu seinen ganz einzigartigen Potenzialen, zu seinen Träumen, zu seiner Berufung zu führen.

Wegweiser zu einem authentischen Leben
Auch wenn es nicht leicht ist, die Stimme des daimon zu erkennen, heißt das nicht, dass wir sie nicht wahrnehmen können. Auf die Frage, ob wir unserer Bestimmung folgen oder nicht, gibt es Antworten. Wir müssen sie nur dechiffrieren. Es gibt zwei Arten von Wegweisern: diejenigen, die hin zu anzeigen, und die anderen, die weg von anzeigen. Allerdings gibt es eine Einschränkung.
Da diese Wegweiser genau wie unsere Träume Nachrichten aus Bereichen anbieten, die uns in der Regel gar nicht oder nur zum Teil bewusst sind, sind mit ihrem Auftauchen keineswegs alle Fragen beantwortet, im Gegenteil: Zunächst einmal werfen sie oft neue Fragen auf, nämlich die nach der Interpretation der gelieferten Information, nach dem Zusammensetzen der einzelnen Mosaiksteine. Das spricht allerdings keineswegs gegen ihren Wert.

Hin zu-Wegweiser zeigen uns, dass wir auf einem Weg sind, auf dem wir uns unserer Bestimmung nähern, uns selbst näher kommen. Hierfür gibt es zwei wesentliche Kriterien:

  • Wir empfinden in uns plötzlich ein tiefes Gefühl von Lebendigkeit, wir werden von Vitalität durchflutet und spüren einen regelrechten Schub an Energie.
  • Wir sind von etwas sehr ergriffen, werden emotional tief berührt und gepackt.

Weg von-Wegweiser sind die Hinweise, die wir erhalten, wenn wir uns in eine falsche Richtung bewegen. Wenn wir versuchen, es anderen recht zu machen, wenn wir dabei sind, uns selbst zu hintergehen, uns zu verleugnen. Dafür kann es sehr vielfältige Hinweise geben:

  • Chronisches Frustriertsein, Missmut, Depressionen, unterdrückte Wut
  • Ständiges Aufschieben, Herumtrödeln, Zeit vergeuden, sich in Scheinaktivitäten flüchten
  • ununterbrochenes Beschäftigtsein und zu nichts kommen Krankheiten, die Folge von Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und Gram sein können
  • Akute Beschwerden wie Schlaf- und Ruhelosigkeit, Herz- und Magenbeschwerden
  • Neigung zu betäubenden Aktivitäten oder Drogen (z.B. exzessives zwanghaftes Joggen, unkontrolliertes Essen, Alkohol, Psychopharmaka…)
  • Das diffuse oder auch konkrete Gefühl, nicht das richtige Leben zu leben Die Selbsteinschätzung, von der Meinung anderer sehr stark abhängig zu sein, sich selbst unterstarkem Konformitätsdruck zu erleben, schnelle Neigung zu Schamgefühlen und peinlichem Empfinden, selbst bei Kleinigkeiten
  • Keine rechte Freude am Leben ohne benennbare Gründe

Eine Landschaftsplanerin, die mit viel Energie und Begeisterung ihr eigenes Büro aufgebaut und über Konjunkturtiefs hinweggeführt hat, spürte auf einmal, wie wenig Freude ihr die Arbeit noch bereitete und dass sie von ganz normalen Arbeitstagen völlig ausgelaugt war. Bei etwas genauerem Betrachten stellte sie fest, dass sich dieses Unbehagen keineswegs auf alle ihre Tätigkeitsbereiche erstreckte. Es gab spezielle Hinweise. Sobald sie sich mit Gesetzestexten und Verfahrensanweisungen auseinander setzen und für ökologische Gutachten, deren tatsächlichen Wert für den Schutz der Natur sie bezweifelte, Texte formulieren sollte, gab es eine signifikante Reaktion. Sie bemerkte beim Sitzen an ihrem Schreibtisch ein Gefühl, als ob ihr die Lebensenergie regelrecht von oben beginnend nach unten abgesaugt würde. So lange, bis sie sich völlig müde und erschöpft fühlte und kaum noch in der Lage war, ganz normale fachliche Vorgänge zu bearbeiten. Dieses Phänomen verschwand fast schlagartig, wenn eine Angestellte sie bat, einen Entwurf zu überarbeiten und mit dickem Stift ihre Gestaltungsvorstellungen in den Plan zu zeichnen, oder wenn es darum ging, eine Interessengruppe oder den Stadtrat von einem schwierigen Thema zu überzeugen. Dann fühlte sie einen Energieschub und lief zur Höchstform auf. Es lohnt sich also, die eigenen Antennen auszufahren und sehr genau hinzuschauen und nachzuspüren. (…)